Von Fabian Nicolay.
Knapp 70 Jahre Demokratie, Gedankenfreiheit, Kultur als Abkehr vom Wahnsinn. Das soll jetzt plötzlich vorbei sein, weil sich in unserem Land unversehens eine Partei dort aufbläht, wo früher Volksparteien unerzogenen Volkszorn wie ein Schwamm aufgesogen haben? Was ist so erstaunlich neu daran? Was so erschreckend, so widerlich, als sei es verseuchtes Neuland? Knapp 70 Jahre Demokratie – und nichts dazugelernt?
Ich habe auf dem Gymnasium lang und breit erfahren, was Totalitarismus und Fremdenhass anrichten. Ich habe wie meine Mitschüler ein geschichtliches Erbe angenommen, das heißt: nie wieder.
Mein Latein- und Griechischlehrer schwärmte von Sokrates, der für seine Meinung lieber den Giftbecher trank, statt klein beizugeben. Und für Ovid, dessen ausschweifend-obszöne Dichtung die bigotte Moral des Kaisers ankratzte, obgleich sein Reich längst korrupt und dekadent war. Er musste in die Verbannung und kehrte nie wieder zurück. Das alles für die Freiheit der Gedanken und die Freiheit der Kunst.
Mein Griechischlehrer war als alter Humanist sicher sehr konservativ. Trotzdem war er tolerant. Ich habe ihn dafür geliebt. Ich habe gleichzeitig meinem langhaarigen Sozilehrer an den Lippen gehangen, wenn er mit leuchtenden Augen von Hegel und Marx schwärmte, und ihn dafür bewundert, dass er an derselben Schule hemmungslos und angstfrei dem Muff aus tausend Jahren den Kampf ansagte und uns aufforderte, nichts hinzunehmen ohne es kritisch und hartnäckig zu prüfen. Er hat uns fast aufgewiegelt – und doch zur Toleranz ermutigt. Im Zweifel sollten wir immer Kulanz walten lassen. Ein Politkommissar wollte er nicht sein.
Als wir die Schule mit dem Abitur verließen, hatten wir das Rüstzeug, das ein demokratisch erzogener Mensch benötigt: Geschichtsbewusstsein, Menschenliebe, Zukunftzuversicht. Zwischen den Polen der konservativen und progressiven Lehrmilieus, die an dieser Schule gleichberechtigt existieren durften, erfuhren wir, dass demokratisches Selbstbewusstsein den fairen Widerstreit beider nie scheuen braucht. Dass die eigene Freiheit gleichzeitig die Freiheit des anders Denkenden sein muss, damit sich die Geschichte nicht wiederholt (was im Übrigen der Marxistischen Dialektik widerspräche).
So wurden wir Schüler zwangsläufig zu dem, was wir heute sind: liberal – nicht einfach im politischen Sinn, sondern vor allem im praktischen. Was hätte wohl mein knorriger Griechischlehrer zu dieser neuen Partei gesagt – was mein langhaariger Sozilehrer? Sie hätten uns sicher beide geraten, dem Argument, der Analyse und dem Glauben an die Freiheit der Meinung den Vorzug zu geben. Dafür haben sie uns ausgebildet: nicht dem Geschrei zu folgen, sondern der eigenen inneren Stimme, nicht leichtfertig den Fingerzeigern und Bezichtigern zu glauben, sondern selbst zu prüfen. Immer vorbehaltlos, in alle Richtungen.
Die Demokratie ist die beste aller Regierungsformen, weil sie den friedlichen Wettbewerb der Gesinnungen zulässt und fördert. Wer diesen Wettbewerb unterbinden will, indem er Denkverbote ausspricht oder die Bewegungsfreiheit der Meinungen einzuzäunen versucht, ist kein Treuhänder der demokratischen Freiheit, sondern ein Feind der offenen Gesellschaft, die er zu verteidigen vorgibt.
Schade, dass heute so wenige unserer Politiker sich dessen bewusst sind, in welch wertvollem Wettbewerb sie sich befinden, und sich stattdessen lieber dazu hinreißen lassen, den populistischen Posen ihrer Gegner mit gleichen populistischen Verrenkungen zu antworten. Meine beiden Lehrer gäben ihnen dafür sicherlich schlechte Haltungsnoten.
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